Von Anne Fitsch : Pfingsten 2015 Mit einigen Leuten aus dem Künstlerforum fahren wir über das Pfingstwochenende ins Wendland zur „Kulturellen Landpartie„. Über 14 Tage lang gibt es in der ganzen Region Ausstellungen und Konzerte, Workshops und Feste, die man besuchen kann. Ein umfangreiches Taschenbuch mit allen Veranstaltungen zeigt die Fülle und Vielfalt der Möglichkeiten, doch noch habe ich mir nicht die Zeit genommen, einmal rein zu schauen. So liegt es also neben mir im Auto und schweigt sich darüber aus, welche Schätze dort zu bergen sind.
Ich falle ein bisschen in diese Tage, bin ich doch zu sehr in meinem Alltag verstrickt und da, wo ich kurz Luft hole, schaue ich auf meinen Wanderurlaub. Da geht das Wendland gedanklich unter. So packe ich erst am Freitagmorgen schnell einige Sachen zusammen und auf geht es in eine Region, die mir völlig fremd ist. Wir sind zu viert unterwegs und lassen uns Zeit mit der Ankunft. In Uelzen besichtigen wir den wunderschönen Hundertwasser-Bahnhof und machen Rast in einem kleinen Café, irgendwo im ländlichen Niemandsland. Einmal runter von der Autobahn, geht die Fahrt durch viele kleine Ortschaften, mit merkwürdigen, aus der slawischen Sprache kommenden, Namen . Dalle, Lohe, Böhsel, Klein Breese, Reddebeiz. Sie alle klingen wie die Namen mystischer Wesen. Waldkobolde und Trolle heißen so, denke ich. Und doch, nichts scheint besser in diese Landschaft zu passen, die so weit und offen vor uns liegt. Hier berührt der Himmel sanft die Erde und abertausende von Pusteblumen wachsen jetzt im Mai auf den hohen Wiesen. Baumalleen, kleine Wälder und alte Höfe liegen wie Bauklötze verstreut in der grünen Landschaft und über allem liegt etwas Uraltes und Mystisches. Ein Geheimnis, eine Geschichte, die älter als die Menschheit ist, spüre ich unter den weiten Feldern. Windräder, wie einbeinige Riesen, prägen die Region und scheinen mir eine moderne Auferstehung der alten Mythen zu sein. Hübsch renovierte Fachwerkhäuser zeigen stolz ihr rotes Backstein und in den dunklen Balken über großen Scheunentoren und Eingangstüren finden sich Segens-, Schutz- und Tugendsprüche, die wohl nie ihre Gültigkeit verlieren. Auf den letzten Kilometern zum Ziel schnappe ich mir dann doch das Programm der Landpartie-Tage und beginne zu lesen. Und was ich dort lese, überrascht mich. So lerne ich, dass die Kulturelle Landpartie nicht zu trennen ist von dem Widerstand gegen das Atommüllzwischenlager in Gorleben.
Gorleben. Ein Wort das, sollte ich es in Farbe umsetzen, einer kolorierten Skizze gleicht. Das Wendland drum herum gemalt wären 3 Bäume und ein Fragezeichen. Nein, ich hatte keine Ahnung, und es war ein bisschen so, als würde ich eine Türe geöffnet haben, auf der die Wörter Wendland und Gorleben geheimnisvolle Passwörter sind, die mich nur erahnen lassen, dass sich hier irgendwas Großes versteckt. Doch erst einmal bleibt keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Wir haben unser Ziel erreicht.
Wir sind auf Harrys Hof in Reddebeiz.
In den vergangenen Tagen habe ich viel darüber nachgedacht, was mich, rückblickend, an diesem Wochenende so tief berührt hat, dass ein Freund nachher von einer Art „Erweckung“ sprach. Geweckt wurde, sicher, eine frühe Kindheitserinnerung an meine Verwandtschaft im Hunsrück. Der Bruder meines Großvaters hatte einen Bauernhof und als Stadtkinder war es für uns immer etwas besonderes dort zu sein. Als ich auf Harrys Hof stand war da ein Gefühl, das zutiefst vertraut war. Ganz sicher lag es auch an unserem Gastgeber Harry Günther. Mit einer herzlichen Begrüßung und einer Selbstverständlichkeit, als wären wir uralte Freunde, hieß Er uns auf seinem Grundstück willkommen. Um eine alte hohe Kastanie, die in der Mitte des gepflasterten Hofes wächst, stehen das Wohnhaus, die Ställe und Scheunen. Biertische, Bänke und Stühle laden ein sich hinzusetzen und der Blick geht auf die umliegenden Wiesen. Kühe weiden im hohen Gras zwischen Pusteblumen und Margeriten. Schwalben fliegen durch das offene Stalltor ein und aus und zwei junge Katzen liegen verschlafen in der Sonne. Gibt es einen friedlicheren Ort? Harry zeigt uns unserem Schlafplatz im Heu. Die Sonne scheint durch das Stallfenster und das Heu duftet so frisch und gut. Ich freue mich über meine Entscheidung, hier schlafen zu wollen, statt im Matratzenlager unter dem Dach. Unser Gastgeber macht uns auf den Aktionstag im nahen Gorleben aufmerksam. Alle Veranstaltungen finden heute am Zwischenlager statt und seiner Empfehlung, dort noch hinzufahren, folgen wir gerne, auch wenn wir schon etwas müde von der langen Anreise sind. Wir fahren eine knappe halbe Stunde und mit jedem Kilometer, den wir uns Gorleben nähern, spüre ich mehr und mehr, welche Energie in dieser Region liegt. Da ist nicht nur die jahrhundertealte Geschichte, da ist auch Aufbruch und Kampf, Widerstand und Widerspruch. Fast an jedem Grundstück, auf dem freien Feld oder am Waldrand, steht ein großes hölzernes, gelbes X. Dieses Zeichen, das den Tag der Castortransporte in den Zeitungen statt eines Datums bekannt gibt, haben die Wendländer zum Protestzeichen erhoben. Es ist ein Zeichen gegen eine unmenschliche Politik und ein Symbol für den Widerstand geworden. Wir fahren über eine schmale Landstraße, die durch ein großes Waldgebiet führt. Schon Kilometer vor dem Ziel stehen unzählige Autos am Straßenrand. Schließlich finden wir doch noch eine Parklücke und stehen vor einem großen abgesperrten Gelände.
Es ist still. Ein einzelner Wachposten steht hinter einem großen Tor und schaut uns aufmerksam an. Was bewacht Er? Der große Parkplatz hinter der Absperrung ist leer. Niemand sonst scheint auf dem Gelände zu sein. Wir gehen in die entgegengesetzte Richtung und kommen auf eine große Lichtung. Eine ganz andere Welt öffnet sich uns hier. Musik und Kunst, spielende Kinder, Menschen die miteinander im Gespräch sind, prägen die Szene. Auf einer großen Wiese steht das ausgemusterte Greenpeace Schiff Beluga wie auf einem grünen Ozean. Längst haben die Kinder diesen Spielplatz entdeckt und das Schiff erobert. Entlang des Weges gibt es viele Infotafeln. Immer wieder lese ich von den Kämpfen, die es auch 38 Jahre nach den ersten Protesten noch zu führen gilt. Seit 38 Jahren kämpfen die Menschen im Wendland gegen das Atommüll-zwischenlager, das auch Endlager sein soll. Trotz aller nachweislichen Bedenken, trotz undichter Atommüllfässer in den zersetzenden Salzstöcken, hält die Bundesregierung an diesem Standort fest. Auch hier stoßen wir auf ein abgesperrtes Betriebsgelände. Hinter einem hohen Eisentor steht eine Gruppe schwer bewaffneter Polizisten mit Helm und Schlagstöcken. Vor dem Tor, junge Menschen, wohl kaum älter als die Polizisten, wie die meisten Besucher hier, aus der alternativen Szene kommend. Schauspieler machen Werbung für ihr nächstes Straßentheater, das in wenigen Minuten beginnen soll. Leute sitzen im Gras, spielen Gitarre, reden und singen. Hier zu stehen hat eine ganz andere Wirkung als zuvor auf dem Hof. Noch nie zuvor, habe ich die Energie zweier so unterschiedlicher Welten an einem Ort gefühlt. Und zum ersten Mal in meinem Leben erlebe und empfinde ich den Staat als Bedrohung. Hier werden keine Menschen geschützt, sondern die Interessen des Staates, denen sich der Bürger zu beugen hat. Natürlich ist der Gedanke nicht ganz neu und doch wird an diesem Ort alle abstrakte und intellektuelle Auseinandersetzung mit der Politik in unserem Land konkret und greifbar. Ich begreife im wahrsten Sinne des Wortes.
Auf dem Rückweg ist es still im Auto. Jeder hängt seinen Gedanken nach, wir finden noch nicht die richtigen Worte für das, was wir gefunden und verstanden haben. In den kommenden Tagen gibt es manches Gespräch mit Harry. Über Tag sind wir mit dem Rad oder dem Auto unterwegs. Wir besuchen ein Konzert der 17 Hippies auf einem Hof in Bülitz und hören herausragende Jazzinterpretationen in einer kleinen Kapelle in Satemin. Ein Ausflug nach Hitzacker an die Elbe und so manche Kunstausstellung am Wegesrand füllen die Zeit und lassen es erfüllte Tage werden. Doch merke ich schon, dass es nicht die Kunst ist, die mich beschäftigt und mit der ich mich auseinandersetzten will.
Immer wieder suche ich die Stille am frühen Morgen auf dem Hof und spüre diesen unterschiedlichen Energien nach, die hier so deutlich präsent sind. Ich sitze unter der alten Kastanie, die das schlagende Herz auf Harrys Hof ist und Anfang und Ende der Arbeit im Wechsel der Jahreszeiten vorgibt. „Erst wenn die Blätter im Frühling hervorkommen, beginnt auch die Arbeit auf Hof und Feld.“ hat uns Harry erzählt. Ich höre den Kuckuck, der mit seinem gleichmäßigen Ruf dem noch kühlen Morgen eine ganz besondere Taktung gibt. Der blaue Himmel ist voller Schwalben und die Wiesen sind übervoll von Butterblumen, Löwenzahn und Margariten. Es ist ein Ort des Friedens und der Stille.
Nur wenige Kilometer weiter aber schläft ein Tod und Verderben bringendes Gift in den Wäldern, die doch dem Menschen seit eh und je Schutz gaben und eigentlich den „Trollen“ gehören. Äcker und Felder sind bedroht, die den Menschen Arbeit und Brot geben. Alle diese Kräfte, das Urbane, alte Geschichten und Geschichte und schließlich der Kampf gegen einen Staat, der seine eigenen Bürger bedroht statt sie zu beschützen, bündeln sich im Wendland. Das prägt die Menschen in dieser Region, macht sie zu Frauen und Männern, die kämpfen können, wie sie es seit Jahrhunderten gewohnt sind, sich für ihr Land einzusetzen, das sie ernährt.
Aufstehen, losgehen und handeln für das Leben, das uns gegeben wurde und für eine Erde, die uns ihren Reichtum und ihre Fülle gerne gibt. Es ist unsere Aufgabe, würdevoll und achtsam mit dem umzugehen was uns geschenkt wurde und uns einzusetzen, dort wo Mensch und Natur bedroht werden. Das habe ich in diesen Tagen nicht nur wieder einmal verstanden, sondern wohl erstmals zutiefst gefühlt und so ist es nicht nur im Kopf geblieben, nein, es ist im Herzen angekommen. Das Wendland wendet den Blick zurück auf das Wesentliche, auf das Leben in einer spannenden und wunderschönen Welt, für die es sich lohnt alles zu geben.
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